
Die Entdeckung der Langsamkeit
Warum es sinnvoll ist, die Qualitäten des höheren Lebensalters zu entdecken
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Eduart Vuillard, der Sonnenraum 1920
Der Jungbrunnen im Sonnenraum
Wir haben es selbst in der Hand, den Jungbrunnen, die Kraftquelle aus der Kinder- und Jugendzeit und aus der geistigen Welt, in dem Lebenszimmer "Sonnenraum" (ab 63 Lebensjahren) zu finden. Möglich ist das, wenn aus den Ressourcen zwischen 1.- 21. Lebensjahren geschöpft wird.
Wie ein Kind im ersten Jahrsiebt die Umgebung mit Neugier betrachtet, nachahmt und mit einer Offenheit staunt und spielerisch lernt, können wir diese Qualitäten aus der Kindheit im Sonnen-Alter erneut nutzen. Das selbstvergessene Staunen und die tiefe Liebe, die ein Kind der Natur und allem entgegenbringt, hat etwas Meditatives und darf im Sonnenraum wieder gelebt werden.
Im zweiten Jahrsiebt entsteht ein grosses Interesse für das Lernen. Im Sonnenraum ist es möglich, Vertiefungen in einem neuen Themengebiet zu suchen und zu finden. Offen und neugierig im Leben zu bleiben, ist beim Lernen sehr wichtig, damit wir neue Lebenswege bestreiten können, die bisher unberücksichtigt blieben. Sobald wir in einer Sache Meister*in geworden sind, dürfen wir in einer anderen wieder Schüler*in werden.
Aus dem Raum der Jugend strömt die Energie für ein neues Freiheitsgefühl.
Die älteren «Jugendlichen» können wie im dritten Jahrsiebt, in ihrer durchlebten Sturm- und Drangzeit, in neu erwachten Rebellionen für die Welt und für ihre Umgebung wachrütteln, die sie aus ihrer inneren Gewissheit und Weisheit holen. Diese inspirierende Jugendkraft werden wir im Sonnenraum gut gebrauchen können, so z.B. in der Ideenfindung für die freie, vor uns liegende Zeit.
Wie der Jugendliche im dritten Jahrsiebt, suchen wir im Sonnenraum unsere eigene Wahrheit.
Selbstkonzepte
Mit dem Älterwerden sind uns Verlangsamung und Gelassenheit zunehmend wichtig. Entschleunigung ist in unserer gegenwärtigen *5. Kulturepoche wesenhaft geworden, indem es um das Bewusst-Werden unseres Selbst geht. Positives Altern ist jedoch nicht selbstverständlich.
*Nach Rudolf Steiner ist das nachatlantische Zeitalter (7227 v. Chr. - 7893 n. Chr.) das fünfte Hauptzeitalter der physischen Erdentwicklung.
In der Übergangphase zum Pensionsalter stehen viele Menschen noch immer tatkräftig im Leben, sind gesund, robust und wirken mit vielen positiven Kräften in das Leben hinein. Der Blick vorwärts zeigt eine Zukunft mit mehr Lebensjahren. Diese Lebensphase nach der Pensionierung, auch schon ein paar Jahre davor, können zur inneren Befreiung werden, sofern wir uns mit der Vergangenheit versöhnt haben und die Gegenwart bejahen.
Wie machen wir das? Unsere inneren Weisheits-Schätze, die wir uns in all den Jahren erworben haben, lassen uns im Alter vieles gelassener betrachten.
Die Überprüfung unseres Selbstkonzeptes nach jedem Jahrsiebt, war für unseren Entwicklungsprozess sehr wichtig. Suchen wir mit fünfzig oder sechzig Lebensjahren im Beruf, wie im Privatleben mehrheitlich nach Anerkennung und wollen uns noch immer beweisen, haben wir nicht verstanden, dass ein positives Lebensalter keineswegs davon abhängt, dass mein Positives immer noch leistungsbezogen ist. Es sind die langjährigen Lebenserfahrungen, die uns Gelassenheit schenken; die Vitalität für unseren Optimismus.
Im Sonnenraum ist es erfreulich auf das im Leben Erreichte und Geschaffene sowie auf die gemeisterten Krisen schauen zu können. Mit unseren Lebenskrisen haben wir gelernt, wie schwere Ereignisse das Selbst erschüttern können. Das führte zu einer Art Ich-Erwachen. Schmerzhafte Erlebnisse sind im Leben auf dem Weg der Selbstfindung selten unumgänglich. In der Ungewissheit reift Geistessicherheit, reift Geistesgewissheit, durch die sich das Ich neu richten – und nach der Zukunft orientieren will.
Mit einer Lebens-Rückschau wird uns ermöglicht, sich an die vielen Erlebnisse und Begebenheiten zu erinnern, gleichzeitig können wir mit den neuen Erkenntnissen einen Blick in die Zukunft richten. Ziele im Leben zu haben, bedeutet Hoffnung und Zuversicht – auch im Sonnenraum.
Ein Menschen-Ich braucht Ziele für die eigene Entwicklung, für die eigene Biografie. Wer vom Ziel nicht weiss, kann den Weg nicht haben, schreibt Christian Morgenstern in einem Gedicht.
Menschen werden auch im Alter zufriedener und erfüllter, wenn sie mehr als nur sich selbst bewegen
Was braucht ein Mensch im Sonnenraum, um zufrieden mit sich zu sein?
Es liegt in der Natur, dass die körperliche Leistungsfähigkeit bereits in der Lebensmitte, ab dem 35. Lebensjahr nachlässt, damit wir frei und in einer anderen Form geistig tätig werden können.
Im Lebensalter zeigt es sich, ob wir uns gut darauf vorbereitet, wie auch gelernt haben, unser Selbstkonzept regelmässig zu überprüfen und zu aktualisieren.
Wir werden empfänglicher für Krankheiten. Gesunde Ernährung, ausreichender Schlaf und körperliche Bewegung können helfen, uns vitaler zu fühlen. Auch ein soziales Umfeld trägt zu einer erfüllten Befindlichkeit bei. Geistige Bewegung ist ebenso wichtig wie körperliche und wird vielmals von uns unterschätzt.
Neue Orientierungsfragen können wir für unsere Lebensziele stellen, z. B.:
Was ist für mich wesentlich und was ist mein Wesen? Es sind Fragen aus dem Zukunfts-Ich. Angelus Silesius (Pseud.) schreibt: Mensch werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg.
Bringen wir uns mehrheitlich mit äusseren Tätigkeiten, wie das Reisen oder Konsumieren, auf verschiedenster Art und Weise in Bewegung – oder lassen wir uns auch von unserer Umgebung und Umwelt im Herzen bewegen? Jüngere Menschen wollen in eine Zukunft. Das ist für ihre Entwicklung, bei der es um das grosse Suchen nach der eigenen Identität geht, sehr wichtig. Bei manchen erwachsenen Menschen hat man oft den Eindruck, als laufen sie vor der Gegenwart davon. Aber für uns alle stellt sich als zentrale Frage:
Wie kann ich an einer Zukunft mitwirken, die mich in meinem ganzen Dasein erfüllt?
Werde ein Mensch mit Initiative
Das Erleben der inneren Betroffenheit in der Uneinheitlichkeit, in der Diskrepanz gegenüber dem Ideal, verwandelt sich mit dem ersten Ergreifen der Initiative oft unmittelbar in eine neue Tragekraft und in ein neues Vertrauen. Offensichtlich verbinden wir uns in der Willens-Initiative ganz mit der werdenden, noch in der Zukunft liegenden Seite unseres Ich.
Im höheren Lebensalter, im Sonnenraum, dürfen wir an der Zukunft unserer Familien, der Gemeinden, der Tiere und der Weltbiografie mitwirken und sie mitgestalten, in dem wir im ersten Schritt aktiv, mit wachen und ernsthaften Gedanken Anteil nehmen. Das gibt uns ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, gleichzeitig erleben wir ein Verbunden-Sein und eine Sinnhaftigkeit unseres Selbst. Wir können das eigene Leben als Schulungsweg betrachten und voneinander lernen.
Ich erwache mit meiner Biografie an meinem Gegenüber und vice versa; das Ich erwacht am Du. Verstehen wir das immer mehr und nehmen es bewusst an uns wahr, werden wir zunehmend fähiger und motivierter, uns mit den (Schicksals-) Gemeinschaften, mit dem Weltenplan zu verbinden.
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